Gezeitenberechnung. Auf die französische Art.
Wild sind die Strömungen und hoch die Gezeitenunterschiede, wenn man an der französischen Atlantikküste segeln möchte.
Wir waren Mitte Juni für eine Woche im fantastischen Segelrevier der Südbretagne von La Trinité sur Mer aus mit einer Ovni 395 unterwegs.
Auch in diesem, im Vergleich zur Bucht von St. Malo bereits sehr gemässigten Revier, gibt es für den Navigator einer Segelyacht noch einiges zu beachten. Das merkte ich bereits bei der Törnvorbereitung, besonders der Umgang mit den Gezeiten verlangt einige Umgewöhnung.
So unterscheiden sich die für die Törnplanung vor Ort an Bord der Yacht zur Verfügung stehenden Unterlagen deutlich von den englischen Gezeitenunterlagen, die wir aus dem Hochseescheinkurs kennen. Der wohl markanteste Unterschied ist der Gezeiten-Koeffizient, der für jede einzelne Gezeit im Gezeitenkalender angegeben wird, sowie die fehlende Angabe von Spring- oder Nippzeit, aus der sich das „Alter der Gezeit“ ableiten liesse.
Während der Törnvorbereitung habe ich mich des Öfteren gefragt, was man denn mit dieser Zahl in der Praxis anstellen kann.
Fündig bin ich – bis auf die Beschreibung um was es sich dabei handelt – allerdings nicht wirklich geworden. Also dann, eine Herausforderung wartet…
Der Gezeitenkoeffizient
Der Gezeitenkoeffizient ist eine vorzeichenlose ganze Zahl zwischen 20 und 120, welche die Höhe der Gezeit (also die Amplitudenhöhe zwischen Niedrig- und dem folgenden Hochwasserstand) in ein ganzzahliges Verhältnis zueinander stellt.
Man kann vereinfacht sagen, dass ein Koeffizient von 20 das völlige theoretische Minimum im Unterschied von Ebbe oder Flut darstellen würde, ein Koeffizient von 120 hingegen die grösstmögliche Differenz zwischen Niedrig- und Hochwasser bedeutet.
Diese beiden Extreme kommen allerdings praktisch fast niemals vor, denn sie sind abhängig von der Stellung von Sonne, Mond und Erde im Raum. Maxima und Minima treten also nur bei äusserst seltenen Konstellationen dieser Körper im Weltraum auf.
Die französischen Unterlagen kennen zwar ebenfalls den Begriff der „Springzeit“ (Vive Eaux) und der „Nippzeit“(Mortes Eaux), differenzieren aber darüber hinaus sehr fein die zu erwartende Höhe und damit auch bereits das tatsächliche Alter der Gezeit. Der Gezeitenkoeffizient beim mittleren Nipptidenhub beträgt per Definition 45, der mittlere Springtidenhub dem Koeffizient 95. Koeffizienten, die über diese Grenzwerte hinaus gehen, werden in den Unterlagen wie z.B. im Almanach Breton (Foto links) farblich gekennzeichnet.
So weit, so gut. Aber hat dieser „Gezeitenkoeffizient“ nun auch einen praktischen Nutzen für uns unterwegs? Wie kann man mit dieser Kennzahl umgehen und was verrät sie uns draussen auf dem Meer?
Der Gezeitenkoeffizient in der Praxis.
Zur Bestimmung der effektiven Höhe einer Gezeit, also zur Bestimmung des Wasserstands an einem bestimmten Ort zu einer gegebenen Uhrzeit, ist der Koeffizient nur sehr bedingt tauglich, er informiert uns lediglich über die Amplitudenhöhe einer Tide an einem Datum.
Um aus diesem geografisch überall geltenden, relativen Wert eine absolute Aussage zu generieren müssten wir also noch eine räumliche Komponente hinzufügen. Denn der Koeffizient wird durch die Bildung eines Verhältnisses zwischen mittlerer Spring-Gezeitenhöhe im Hafen von Brest und der erwarteten, tatsächlichen Gezeitenhöhe am fraglichen Tag gebildet. Da der daraus resultierende Wert sich also nur auf Brest bezieht, muss man den am eigenen Ort zu erwartenden tatsächlichen Wert der Gezeitenhöhe mit einem Ortsfaktor multiplizieren. Dieser wird zwar für einige Referenzhäfen angegeben, hat aber in der Praxis kaum eine Bedeutung, da ja neben der zu erwartenden Höhe der Gezeit auch noch die Höhe des Wasserstandes zu Niedrig- oder Hochwasser eine Rolle bei der Kalkulation spielt.
Der Koeffizient hat also auf die Höhenberechnung des Wasserstandes kaum eine Auswirkung. In den Tidentabellen werden die Zeitpunkte und Höhen von Niedrig- und Hochwasser für diverse Häfen entlang der Atlantikküste akkurat und übersichtlich genannt. Was er uns aber verrät, ist die Geschwindigkeit mit der das Wasser steigt oder fällt – und damit implizit auch die Menge des innerhalb von ca. 6 Stunden verfrachteten Wassers.
Hier kommen nun die aus dem Hochseescheinkurs bereits gut bekannten „Anschlussorte“ der Bezugshäfen ins Spiel.
Wie man in der nebenstehenden Tabelle gut sehen kann, gibt es auch in den französischen Unterlagen die Spalten für die Höhen- und Zeitdifferenzen der Anschlussorte (Ports Rattachés) zu deren jeweiligen Bezugshäfen. So weit, so bekannt und auch nachvollziehbar.
Zusätzlich fällt dem aufmerksamen Leser vielleicht auch noch die Angabe des jeweiligen Koeffizienten in der Liste der Anschlussorte auf. VE bedeutet „Vives Eaux“, also Springzeit mit Koeffizient 95 und ME (Mort Eaux) entspricht hier unserer Nippzeit mit einem Koeffizienten von 45.
Die in der Tabelle angegebenen Werte zur Zeit- und Höhendifferenz beziehen sich also genau auf diese Koeffizienten!
Daraus folgt nun der erste Teil der praktischen Anwendung des Gezeitenkoeffizienten
Mittels des Koeffizienten können wir nämlich mittels einer relativ simplen Interpolationsrechnung die exakten Verzögerungswerte für die Anschlussorte bestimmen, ohne das „Alter der Gezeit“ vorgängig zu ermitteln:
Wenn bei einem Koeffizienten von 45 das Hochwasser um 10 Minuten später und bei einem Koeffizienten von 95 um 20 Minuten später als beim Bezugsort auftritt, tritt das Hochwasser bei einem Koeffizienten von 65 ganze 14 Minuten später als am Bezugsort auf.
Diese Interpolation habe ich nebenstehend einmal grafisch gelöst. In der X-Achse sind die Zeitdifferenzen, in der Y-Achse die Gezeiten-Koeffizienten abgetragen.
Man trägt einfach die entsprechenden Wertepaare für Spring- und Nippzeit ein und kann dann über den aktuellen, im Tidenkalender angegebenen Koeffizienten die gültige Zeitkorrektur zum Bezugshafen ablesen.
Viola!
Teil 2: Die Strömungen und der Gezeitenkoeffizient
Wie bereits weiter oben erwähnt, verweist der Koeffizient direkt auch auf die Menge des durch die Gezeiten verfrachteten Wassers eines Gebietes innerhalb von ca. 6 Stunden.
Gezeitenströmungen sind abhängig von verfrachtetem Wasservolumen und Zeit: Je mehr Wasser sich innerhalb einer gewissen Zeit irgendwohin bewegen muss, desto höher wird die Strömung ausfallen mit der wir zu rechnen haben und umgekehrt.
Daraus folgt, dass man mit Hilfe des Gezeitenkoeffizienten auch auf die im zu befahrenden Seegebiet zu erwartenden Gezeitenströmungen schliessen kann.
Dabei gilt aber besonders, dass die für ein Verfahren zu verwendenden nautischen Unterlagen auch geeignet sein müssen.
In unseren Hochseeschein-Kursen werden wir auf einer SHOM-Übungskarte in Kombination mit dem englischen Reeds-Almanach ausgebildet. Diese Kombination wird man aber bei einem Yachtcharter in Frankreich wahrscheinlich nicht antreffen. An Bord wird man auf die Kombination von SHOM-Seekarten und Bloc-Marine, dem französischen Standardwerk, stossen.
Im Blocmarine sind die Strömungskarten anders als aus dem Reeds bekannt dargestellt.
Anstelle zweier, durch ein Dezimalkomma getrennter Zahlen finden wir im Blocmarine eine vierstellige Zahl an jedem Strömungspfeil. Auch diese Zahl verrät uns die Stärke der jeweiligen Strömung in Zehntelknoten, wobei die ersten beiden Ziffern die Strömungsgeschwindigkeit zur Springzeit und die letzten beiden Ziffern die Strömung zur Nippzeit bezeichnen. 2517 bedeutet also 2,5 kn Strömung zur Spring- und 1.7 kn zur Nippzeit.
Achtung: Nicht nur die Darstellung der Zahlen ist unterschiedlich zum Reeds, auch die Reihenfolge ist gedreht: Zuerst wird die Spring- und dann die Nippzeit angegeben, beim Reeds wird die Nippzeitströmung zuerst genannt!
Die Spring- und Nippangaben beziehen sich im Blocmarine nun wieder auf die uns mittlerweile gut bekannten Koeffizienten von 45 (Nipp-) und 95 (Springzeit).
Damit können wir nun wieder ganz bequem die zu erwartende Tidenströmung zu jedem Zeitpunkt des Jahres interpolieren:
Diese Beispielhafte, grafische Interpolation findet sich im Bloc Marine und zeigt wie einfach sich Gezeitenströme auf diese Art tagesgenau bestimmen lassen.
Wieder wird auf der X-Achse der Grafik der Gezeitenkoeffizient abgetragen und auf der Y-Achse finden sich die Strömungswerte. Im nächsten Schritt werden die Wertepaare am fraglichen Strömungspfeil für die Koeffizienten 45 und 95 in das Diagramm eingetragen und mit einer Geraden verbunden. Die Lösung ist dann simpel: Eine waagerechte Linie vom fraglichen Koeffizienten bis zur konstruierten Grade und dann in der senkrechten den aktuellen Strömungswert ablesen.
Im nebenstehenden Beispiel befindet sich am Pfeil die Kennzahl 5537, also 5,5 kn Strom zur Springzeit (Coef. 95) und 3,7 kn Strom zu Nippzeit (Coef. 45).
Wie oben beschrieben eingetragen, erhalten wir bei einem gefragten Koeffizienten von 72 einen effektiven Strömungswert von 4,7 kn. Jetzt nur noch die Richtung des Stromes mit dem Kartenlineal bestimmen und schon können wir unser Strömungsdreieck zeichnen 😉
Und der Wasserstand? Wie berechnet man die Höhe des Wasserstands über Kartennull?
Leider habe ich in den französischen Gezeitenunterlagen keine dem englischen Pendant entsprechenden Tidenkurven gefunden, anhand derer man über den Hoch- und Niedrigwasserstand hinausgehende, ausreichend exakte Wasserstandsberechnungen zeichnerisch lösen könnte.
In den nautischen Unterlagen wird immer wieder auf die bekannte Zwölferregel verwiesen, die nach meiner Erfahrung in der südlichen Bretagne genau genug ist, um damit sicher navigieren zu können.
Bei einem Test im Hafen von Sauzon auf der Insel Belle Ille vor La Trinité sur Mer lag unsere Kalkulation in Höhe und Zeit nicht spürbar neben dem tatsächlich erwartetem Wasserstand zu Niedrigwasser.
Wie es allerdings in den Gebieten mit z.B. Flussmündungen (St. Nazaire?) oder grösseren Buchten (Rade de Brest?) aussieht kann ich aus der Praxis nicht beurteilen. Meine Recherchen im Netz weisen aber auf einen nahe an der cosinusfömigen Idealline verlaufenden Gezeitenstieg hin, der die Zwölferregel aus Einfachheitsgründen für dieses Seegebiet geradezu empfiehlt.
Segeln in der südlichen Bretagne
Ein tolles Erlebnis, wenn auch die Tidennavigation etwas anders abläuft als man es im Hochseescheinkurs lernt und lehrt.
Aber ein Blick über den Tellerrand hat noch nie geschadet. Schliesslich soll man immer wieder etwas hinzulernen und nach Möglichkeit so navigieren, wie es die „Locals“ vor Ort handhaben. Die wissen nämlich meist ziemlich genau, warum sie etwas wie machen….
Mein Törnbericht über unseren Mittsommer-Törn im Land der Druiden und Menhire folgt demnächst…
Wie immer freue ich mich über Deine Meinung, Deine Anregungen und natürlich auch über Deine sachliche Kritik – Man kann nur voneinander lernen.
Moin Uwe,
unsere SNIFIX DRY mit Heimathafen Bremerhaven liegt jetzt für die dritte Saison am Channel, aktuell St. Cast le Guildo (sehr zu empfehlen!) mit Saisonauftakttörn Himmelfahrt/Pfingsten über die CI nach Cowes. Habe mich also noch mal zur Auffrischung mit Deinen sehr erhellenden Erläuterungen befasst, da mir die Sache mit dem Koeffizienten immer nur „so ungefähr“ in Erinnerung war. Speziell mit dem für uns einschlägigen Wechsel von der französischen zur englischen Seite sehr hilfreich. Vielen Dank, sehr gut verständlich. Allgemein rechne ich auch zwischen HW und NW mit der 12-er Regel, nur kommt ja hier in der Bucht von St. Malo mit dem extremem Tidenhub und dessen ebenso extremen Unterschieden zwischen Spring- und Nippzeit der Umstand hinzu, den Tidenhub am interessierenden Tage möglichst genau zu bestimmen, und da kann man ja wohl auch schlicht mittels des Koeffizienten für den Reisetag zwischen den bekannten Angaben für die Anschlussorte für die Höhe der Gezeit bei ME/VE und den betreffenden Koeffizienten 45/95 interpolieren, richtig? Beste Grüße aus Bremen, Dirk
Besten Dank. Wir werden April/Mai dort segeln und sind sehr froh, etwas über den mirakulösen Coeffizienten gelernt zu haben.
Gruss Elmar
Lieber Elmar
Es freut mich, dass ich Dir etwas helfen konnte und wünsche jetzt schon viel Spass in diesem wirklich eindrücklichen und schönem Segelrevier!
VG
Uwe
hallo Uwe
Herzlichen Dank – sehr informativer Beitrag!
Mich interessiert es immer, andere Methoden kennenzulernen.
und es weckt Neugier auf ein neues Revier….
Beste Grüsse Christian
Herzlichen Dank für diese tolle Erklärung.
Habe mich immer gefragt, wie die Gezeitenrechnung in Frankreich abläuft.
Die 12er Regel wird auch bei uns an der Nordsee-Küste angewedet.
Dazu gibt es zu den Bezugsorten eine menge Anschlußorte.
So müßte es in Frankreich ja auch sein.
Eine Rechnung bei der das alter der Gezeit vorher festimmt wird gibt es also ?
Haben Sie vom Astro.-Nav Kurs in Pontresina gehört?
Beste Grüsse Jan-Holgar Borm
Lieber Jan-Holgar,
Das Alter der Gezeit zu berechnen ist bei dem hier vorgestellten Verfahren überflüssig, da die Abstufung über den Coeff. viel differenzierter ist.
Eigentlich benötigt man das ja nur um zu entscheiden ob man den direkten Wert für Nipp oder Springzeit aus der Tabelle nimmt oder halt interpolieren muss.
Aber selbst das ist ja immer noch eine Frage des Augenmasses: Bei einer Spring- zu Nippzeitdifferenz von z.B. 15 Zentimeter Höhe würde ich mir das Interpolieren jetzt wahrscheinlich sparen 🙂
Die 12er Regel funktioniert nur wenn die Gezeitenkurve annähernd Cosinusfömig verläuft. Bei Wilhelmshaven würdest Du damit schon ziemlich daneben liegen, vgl: http://www.nautisches-lexikon.de/b_gez/gezeitenprax/x_zwoelftel.html
Das Astro-Seminar kenne ich nicht, aber danke für Deinen Link 🙂
Kann man ja _mal_ durchlassen, so einen Kommentar …