B-Schein Kurs – Abend 8 & 9: Die Gezeiten
Die Gezeiten und die Gezeitenberechnung: Ein zentrales Thema beim Hochseeschein-Kurs – Deswegen nehmen wir uns dafür auch zwei Abende Zeit.
Auf und nieder – Immer wieder…. Das endlose Spiel der Gezeiten, das wir nicht nur vom eindrücklichen Verschwinden des Meeres an der Nordseeküste her kennen. Auch an anderen Orten gibt es wahrlich eindrückliche Gezeiten. Zum Beispiel an der französischen Kanalküste, an der südenglischen Küste oder vor Neufundland. Wo übrigens die grössten Gezeitenunterschiede überhaupt gemessen werden.
Wie kommt es überhaupt zu diesem Hin- und her Schwappen dieser gigantischen Wassermassen? Welche Effekte sind für uns wichtig, wenn wir ein solches „Gezeitenrevier“ mit unserem Sportboot befahren wollen? Fragen, die an den beiden Hochseeschein-Kurs Abenden geklärt werden sollen. Zumindest so weit, dass wir theoretisch in der Lage wären diese spannenden Reviere zu befahren.
Eine für das grobe Verständnis der Zusammenhänge völlig ausreichende Erklärung von Ebbe und Flut fand ich auf Youtube. Knapp 1:45 Minuten zugucken und Du weisst ungefähr schon mal worum es geht:
Wir wissen nun schon mal, warum es Ebbe und Flut überhaupt gibt und die Gezeiten bei uns zweimal täglich auftreten.
So ist die Gezeitenwelle nur ungefähr 30 Zentimeter hoch und eigentlich ein „Gezeitenberg“ unter dem die Erde drunter weg rotiert. Aber warum beträgt der Unterschied zwischen Ebbe und Flut nicht überall nur diese 30 Zentimeter sondern an manchen Orten der Welt sogar um die 10 Meter?
Die grossen, verschiedenen Gezeitenunterschiede haben Ihren Ursprung in eben diesem kleinen, aber langen 30 Zentimeter-Wellenberg.
Nur wirkt die Energie dieser 30 Zentimeter-Welle ziemlich tief in das Wasser und daher werden trotzdem enorme Mengen Meereswasser verfrachtet. Das gibt dann halt bei ansteigendem Meeresgrund in Kombination mit engen Sünden, Fjorden, Flussmündungen und Meerengen wie z.B. dem englischen Kanal eine entsprechend hohe Verfrachtungs-Welle mit entsprechend starken Strömungen.
Du kennst das Phänomen: Kleine und harmlose Wellen kommen vom Meer her und brechen dann am Ufer hoch und steil. Im Prinzip ist das nichts anderes.
So eine umlaufende Gezeitenwelle kann dann in Europa bei St. Malo schon mal gegen 10 Meter hoch werden. Die weltweit höchsten Gezeitenunterschiede gibt es übrigens in der Bay of Fundy vor Nova Scotia. Wie Du in der obigen Grafik siehst, handelt es sich dabei um einen tief eingeschnittenen, sich verengenden Fjord mit steigendem Meeresgrund. Perfekte Bedingungen für hohe Gezeitenwellen.
Auswirkungen auf die Gezeitenhöhe
Neben dem Mond und der Sonne haben also noch andere Faktoren einen Einfluss auf die Höhe der zu erwartenden Gezeiten.
Ausser den weiter oben schon angesprochenen Küstenformen und der Wassertiefe sind das vor allem:
- Die Grösse des Gewässers.
Kleinere, geschlossene Meere wie das Mittelmeer, das Schwarze Meer oder die Ostsee haben deutlich kleinere Gezeiten als grosse Meere wie der Atlantik. - Der Luftdruck.
Bei tiefem Luftdruck steigt das Wasser höher als bei hohem Luftdruck. - Der Wind.
Durch die Verfrachtung von Wasser durch den Wind erzeugen auflandige Winde höhere Wasserstände als ablandige Winde.
Bei Sturmfluten wirken übrigens Wind, Luftdruck sowie die Stellung von Mond und Sonne verstärkend aufeinander ein.
Springzeit, Mittzeit, Nippzeit.
Wegen der Wechselwirkung der Anziehungskräfte von Mond und Sonne ist die Höhe der Gezeiten stark von der Stellung der Himmelskörper zueinander abhängig.
Während der Springzeit bilden Mond, Sonne und Erde eine Reihe. Die Gravitationskräfte addieren sich, der Gezeitenberg wird grösser. Das gilt übrigens bei Neumond genau so wie bei Vollmond, bei dem sich die Erde zwischen Mond und Sonne befindet.
Die Nippzeit hingegen tritt ein, wenn sich Mond und Sonne von der Erde aus betrachtet in einem ungefähren rechten Winkel zueinander befinden. Das ist immer der Fall, wenn wir auf der Erde einen Halbmond sehen.
Springzeiten und Nippzeiten dauern immer genau 4 Tage: Zwei Tage vor und zwei Tage nach dem Voll- Neu- oder Halbmond werden jeweils zur Spring- oder Nippzeit gerechnet. Die Zeiten dazwischen, jeweils ca. 3 Tage, werden Mittzeit genannt. In diesen Zeiten bewegen sich die Werte von Ebbe und Flut in etwa am Durchschnitt zwischen den Spring- und Nippwerten.
Gezeitenströme
Die grossen Wasserbewegungen verursachen nicht nur Ebbe und Flut, sondern auch mehr oder weniger starke Strömungen bei auf- oder ablaufendem Wasser.
Die durch die Gezeiten verursachten Meeresströmungen sind, abhängig vom Alter der Gezeit und aktuellem Stand der Tide, relativ konstant und werden z.B. vom United Kingdom Hydrographic Office als ADMIRALTY Tidal Stream Atlases in Kartenform veröffentlicht. Diese Karten bilden die Stromverhältnisse zu Spring- und Nippzeiten jeweils in stündlichen Zeiträumen von 6 Stunden vor bis 6 Stunden nach einem Hochwasser ab.
In den Seekarten der entsprechenden Seegebiete finden sich in Form von Gezeitendiamanten ebenfalls standardisierte Angaben zu den zu erwartenden Gezeitenströmen. ATT-Karten, Gezeitenangaben in Seekarten und die Stromberechnungen hatten wir in den Kurseinheiten 4 & 5 bereits besprochen, so das wir hier nur kurz der Vollständigkeit halber darauf zu sprechen kommen.
Für eine vollständige Passageplanung ist das Berücksichtigen von Gezeitenhöhe und Gezeitenstrom unbedingt notwendig.
Im weiteren Verlauf dieser Kurseinheit behandeln wir jedoch nur noch die Berechnung und Vorhersage der zu erwartenden Höhe der Gezeit.
Die Gezeitenberechnung
Wir wissen also nun, woher die Gezeiten ihren Ursprung und welche Effekte wir zu erwarten haben. Nun müssen wir also nur noch herausfinden, wie wir effektiv an Bord damit umgehen können.
In den grossen Seefahrernationen wie z.B. Frankreich, England und Deutschland waren die Seeleute schon immer mit dem Gezeiten-Phänomen konfrontiert und haben pragmatische Wege zur Berechnung der Tiden herausgefunden.
Wir, das heisst der CCS als Prüfungsinstanz der Schweiz, hat sich für das englische System der Tidenberechnung entschieden. Das schauen wir uns nun einfach mal kurz an, dieses Script hier soll ja nicht den ganzen Kursabend ersetzen 😉
Nautische Unterlagen zur Gezeitenrechnung
Um die Höhe des Wasserstandes zu einer bestimmten Zeit an einem vorgegebenen Ort bestimmen zu können, benötigen wir zusätzlich zu unseren nautischen Unterlagen wie Karte und ATT-Stromatlas auch noch den Reeds Nautical Alamanach. In den CCS-Kursunterlagen sind die für die Prüfung relevanten Seiten aus dem Reeds 2012 bereits als Anhang vorhanden, wir müssen also für unsere Übungen keinen kompletten Reeds kaufen.
Die Gezeitenberechnungen
Unser Bezugspunkt: Die LAT
Auf unserer Seekarte entsprechen die in der Karte angegebenen Wassertiefen (das Seekartennull) dem tiefst vorkommenden Niedrigwasserstand, der „Lowest Astronomical Tide“.
Das bedeutet, dass wir davon ausgehen können auch bei extremem Spring-Niedrigwasser immer noch die in der Seekarte angegebene Wassertiefe unter dem Kiel loten zu können.
Die LAT sollte nur bei extremen Konstellationen von Wetter, Alter der Gezeit und Jahreszeit unterschritten werden.
Der Reeds-Almanach bietet uns zur Berechnung der Höhe der Gezeit zunächst einmal einen Kalender für verschiedene Küstenorte im jeweils gültigen Ausgabejahr. Aus diesem Kalender können wir für jeden Tag die voraussichtlichen Wasserstände und Uhrzeiten für Ebbe und Flut ablesen.
Diese Küstenorte sind die Bezugsorte für unsere Berechnungen anderer Häfen. Nur für diese Bezugsorte enthält der Reeds auch noch Gezeitenkurven, die das Steigen und Fallen des Wassers zu Spring- und Nippzeiten grafisch anzeigen.
Des weiteren enthält der Reeds auch noch ein Hafenverzeichnis für jeden relevanten Hafenort im Fahrtgebiet. Neben den Informationen zum Hafen selbst finden wir dort auch noch eine kleine Tabelle mit den Höhen- und Zeitdifferenzen zum jeweiligen Bezugsort des beschriebenen Hafens.
Mit diesen Informationen versehen, können wir nun den Wasserstand zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Jahres an unserem Schiffsort berechnen.
Das habe ich im folgenden einmal für eine Aufgabe aus dem Prüfungs- und Fragenkatalog des CCS, Ausgabe 2014, durchgespielt. Die Aufgabe lautet:
„Am 31. Juli 2011 wollen wir vor Sark (Maseline Pier) um 1800h (UT +1) ankern und die Nacht verbringen.?Der Tiefgang unseres Schiffes beträgt 1,7 m. Die vorgesehene Sicherheitsmarge beträgt 1,0 m.??Wie gross muss die Wassertiefe im Augenblick des Ankerns sein, damit wir bei Niedrigwasser genug Wasser unter dem Kiel haben?“
Der Lösungsweg ist eigentlich simpel, mit etwas Verständnis für die Sache merkt man schnell, das viele Arbeitsschritte nicht nötig wären (Springzeit 😉 )
Aber ich bin mal wie ein helvetisch-teutonischer Beamter durch das Schema durch, des Anschauungseffekts wegen:
- Maseline Pier im Hafenverzeichnis suchen.
- Bezugsort (St. Helier) für Maseline Pier ermitteln.
- Daten der Aufgabe und des Bezugsorts in das Gezeitenberechnungsschema eintragen.
- Das Alter der Gezeit bestimmen. (Spring)
- Die entsprechenden Werte für Ebbe, Flut und die Uhrzeiten des Bezugsortes in das Schema eintragen.
- Die Zeitdifferenzen für Niedrigwasser vor Ankermanöver, Hochwasser nach Ankern und erstes Niedrigwasser nach Ankern grafisch ermitteln.
- Die entsprechenden Höhendifferenzen der Gezeiten ermitteln.
- Die Differenzen in das Gezeitenschema eintragen.
- Ausrechnen.
- Ausrechnen, wie viel Wasser wir um 18:00 mindestens unter dem Kiel benötigen um die Vorgaben der Aufgabe zu erfüllen. (8.5 Meter)
Die Lösung der CCS – Gezeitenaufgabe 4 als Powerpoint-Präsentation.
Um den Prozess so transparent wie möglich zu machen, habe ich noch eine kleine Powerpoint-Präsentation gebastelt, die den Lösungsweg meiner Meinung nach ziemlich detailliert darstellt.
Du kannst Dir diese Präsentation gerne hier und jetzt gratis und komplett ohne Verpflichtung herunterladen und Sie für Deine Ausbildung oder Deinen Kurs nutzen. Ich freue mich, wenn Dir meine Arbeit nützlich ist!
Sei bitte so fair und verändere die Präsentation nicht – Du kennst das: Quid pro Quo. Ich freue mich auch über Verweise, Empfehlungen und Kritik.
So, nun aber genug: Hier kannst Du die Präsentation direkt laden:
Lösung Gezeitenaufgabe 4 des CCS, 2014, 15 Folien, 5,8 MB
Viel Spass beim Lernen!
Eine chronologisch sinnvoll sortierte Übersichtsseite über alle bislang erschienenen Artikel zum Thema Hochseeschein finden Sie hier:
Der Hochseeschein – Der Weg zum Schweizer B-Schein.
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Foto Gezeitenstrom: Clemensfranz
Hallo Uwe
Vielen Dank für die Erklärungen. Leider ist die ppt Präsentation Passwort-geschützt. Wäre es möglich das Passwort zu bekommen?
Liebe Grüsse, Lukas
Salut Lukas,
Der Passwortschutz ist nur für das bearbeiten aktiv 😉
Abspielen sollte ohne Probleme funktionieren …
VG
Uwe
Ahoi Uwe,
Sehr gute Präsentation. Ich bin dabei aber mit der Lösung des CCS und somit auch mit Deiner nicht ganz einverstanden. Das NW vor dem Ankermanöver ist für den Praktiker „tempi passati“, somit nicht nötig.
Mich interessiert ja das nächste Niedrigwasser und siehe da, das ist noch tiefer als das vergangene!
Warum schlägst Du dann das vergangene NW vor, aufzuführen? Nach mir ist dieses zu vergessen, wenn man Zeit gewinnen will…
Ich werde das dem CCS auch noch mitteilen, da wir ja nicht für die Prüfung sondern für die Praxis lernen.!
Wenn Du damit einverstanden bist, würde ich gerne Deine Präsentation mit der entsprechenden Quellenangabe für mich verwenden.
Immer eine handbreit Wasser unter dem Kiel.
Mit nautischen Grüssen
Salut Philipp,
ich gebe Dir insofern recht, als das der nächste Niedrigwasserstand der für das geplante Ankermanöver der Ausschlaggebende ist.
Aber in der Präsentation steht doch, weshalb wir auch das vorhergehende NW ermitteln:
Wir wollen schlicht schauen, wie alt die laufende Tide grade ist; Haben wir steigendes oder fallendes Wasser!? Könnte ja für ein laufendes Ankermanöver ja auch eine durchaus relevante Info sein.
Ausserdem stellen wir ja fest, das um 18:00 grade auflaufendes Wasser ist. Um die um 18:00 Uhr aktuelle Höhe der Gezeit mittels der Gezeitenkurve zu ermitteln, benötigen wir aber den vorhergehenden Niedrigwasserstand. Sonst können wir nämlich unsere Interpolationsgrade im Diagramm (L.W.Hts.m) nicht konstruieren und die Aufgabe auf dem vorgegebenen Weg nicht lösen!
Wie Du vielleicht bei der Durchsicht der Übungsaufgaben insgesamt schon festgestellt hast, sind einige Arbeitsschritte aber durchaus anscheinend „überflüssig“.
So könnte man sich z.B. das zeichnerische oder rechnerische Interpolieren der zum Anschlussort angegebenen Höhen- und Zeitdifferenzen sparen (Springzeit!) und würde trotzdem noch zu für die Praxis völlig ausreichenden Ergebnissen kommen.
Denn ob ein NW/HW nun 5 Minuten vorher oder später auftritt oder ein HW/NW 5 Zentimeter höher oder tiefer ausfällt als direkt aus den Tabellen ablesbar ist IMHO in der Praxis völlig irrelevant.
Da spielen dann Faktoren wie z.B. Wasserstandsänderungen durch Windverfrachtung und Wellenhöhe meiner Meinung nach eine entscheidendere Rolle – Aber darauf wird in der Ausbildung nun wiederum lediglich über die „Sicherheitsmarge“ eingegangen – In den französischen Gezeitenunterlagen hingegen findet sich dafür sogar eine Tabelle, die in die eigenen Berechnungen mit einzubeziehen ist. 🙂
Soweit Einverstanden?
Immer die Handbreit und viele Grüsse
Uwe
step by step … und super verständlich nachvollziehbar!!!
Jetzt habe ich so lange an meiner Aufnahmemöglichkeit gezweifelt und endlich finde ich diese super Hilfe! … die mich in einen „Lern-Rausch“ zieht, wie es nicht besser geht!
Riesiges Dankeschön!!! Lilo